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Ein Blick in die Deli-Küche der Biosensorik

In deutschen Hörsälen: Deutschlands jüngster Professor ist eine Frau - Eine Elektrotechnik-Vorlesung an der Universität Rostock

Sind Deutschlands Hochschulen den Herausforderungen des dritten Jahrtausends gewachsen? Kann die Lehre mit den wachsenden Anforderungen mithalten? Ist die Massenuniversität noch der Ort, um konkurrenzfähigen Nachwuchs für Wirtschaft und Industrie auszubilden? WELT-Reporter suchen in deutschen Hörsälen nach Antworten.

Rostock - Nur nicht abschrecken lassen. Nicht vom feuchten Morgen. Dafür kann Warnemünde nichts. Die Ostsee ist schuld. Sie durchfeuchtet die Dämmerung. Sie legt diese Schwere in die Luft, die das Atmen zur Überwindung werden lässt. Dann natürlich die Rostocker Universitätsverwaltung. Sie bestellt ihre Ingenieurstudenten schon um 7.30 Uhr zur ersten Vorlesung. Um 7.30 Uhr! Zu einer Zeit also, wenn eine halbe Stunde Weiterschlafen eine besonders lustvolle Angelegenheit ist. Zu einer Zeit, in der die Luft hier besonders kalt und besonders nass ist - eine Herbsteigenschaft des Rostocker Ostseevororts Warnemünde. Ein fröstelnder Weg zur Vorlesung auf das Uni-Gelände aus Vorkriegsbackstein, Vorwendeplatte und dem Nachwendezweckbau.

Man muss davon ausgehen, dass alle Ingenieurstudenten freiwillig hier sind. Heute morgen wird ihnen ein Leckerbissen aus der Deli-Küche der Laborautomation gereicht. Es handelt sich um die geheimnisvollen Welten der Biosensorik. 18 angehende Ingenieure sind erschienen. Aus irgendeinem Grund tragen die Studenten Bluejeans und farblich schwer zu definierende Sweat-Shirts - alle. Übrigens ist die klassisch-maskuline Verwendung des Substantivs hier frei von bewusster oder unbewusster Gender-Unschärfe. Die 18 Studenten aus Gründen politischer Korrektheit "Studierende" zu nennen wäre hier unkorrekt, Studentinnen sind nicht vorhanden. Der Vorlesungsraum bietet einen Anblick, der Feministinnen und Frauenbeauftragte am Sinn ihres Tuns zweifeln oder sie grimmige Forderungen nach Gesetzen zum Verbot der Diskriminierung der Frau im Hörsaal stellen ließe.

Doch dann. Ein dunkelblaues, sehr zartes, sehr blasses Wesen betritt den Hörsaal. Es ist eine Frau. Die Frau schließt die Tür, sie steuert in den Saal. Dann scheint sie einen Fehler zu machen: Sie findet die letzte Reihe nicht, sie setzt sich nicht zu den Sweatshirt-Trägern. Sie nimmt Kurs auf Podium und Tafel. Das blasse Wesen verfügt über erstaunlich energische Bewegungen, und ihr Gesicht ist von einer Beherrschung, die an Ausdruckslosigkeit grenzt. Sie macht noch immer keine Anstalten, den Fehler zu korrigieren und sich zu den anderen Studenten zu setzen. Vor statt neben den Burschen bleibt sie stehen.

Die Frau ist die Professorin. Frauenbeauftragtentriumph. Doch die 18 Sweatshirt-Träger blicken ungerührt, frei von Erwartung, frei von Neid oder Überraschung. Sie kennen die junge Professorin nicht, können sie nicht kennen, denn es ist die erste gemeinsame Vorlesung. Aber in den Elektrotechnik-Studenten Anfang 20 steckt eine Art Gottvertrauen, das sagt: Wer uns hier hergestellt wird, der steht da zu Recht.

Kerstin Thurow, vor einem Monat, mit 29 Jahren, zur ordentlichen Professorin für Elektrotechnik an der Universität Rostock berufen, beginnt ihren Vortrag. Mit einer Stimme, deren Nüchternheit an ein Glas Wasser erinnert. Die Stimme spricht über das "allen Anwesenden bestens bekannte" Platin-Widerstandsthermometer, über die Bestimmung stofflicher Größen mittels mischempfindlicher Wärmeleitsensoren. Die Hand der Professorin greift zur Kreide und schreibt unerschrocken zunächst die Ringformel eines Glukosegemischs, sodann Schaltpläne zum korrekten Anlegen der Zellspannung in einer Blutzuckerprobe und zwischendurch für die Zweifler immer mal wieder ein Koordinatenkreuz zur Darstellung auch der letzten Millimol-Stromstärken-Korrelation an der Tafel.

Kerstin Thurow ist Deutschlands jüngste Professorin, und auch einen jüngeren Professor findet man in Deutschland nicht. Die Professorin beseitigt in ihrem Lebenslauf selbst letzte Zweifel an der übergeschlechtlichen Außerordentlichkeit ihrer wissenschaftlichen Laufbahn: Bis 1997 war sie, wie es dort zu lesen ist, Wissenschaftlich-er Mitarbeit-er, dann zunächst Stellvertretend-er, schließlich Geschäftsführend-er Institutsdirekt-or und seit erstem Oktober Profess-or - alles ohne "-in".

Der weibliche Professor bringt seinen Vortrag mit der gleichen Nüchternheit zu Ende, wie er ihn begann. Denn Elektrotechnik ist nun mal kein komisches Fach. Und wenn es komisch wird ("es ist schön, wenn Strom fließt"), lacht niemand. Die Studenten verstehen den Code ihrer Professorin. Alltagssprache. Alltagsvorlesung. Eine junge Frau steht da unten, die nur einige Jahre älter ist als ihre Studenten. Geboren, studiert und promoviert in Rostock, habilitiert in München. Sie ist unverheiratet und kinderlos. "Warum soll ich mich darüber wundern", sagt ein blonder junger Mann in der ersten Reihe. "Die Vorlesung war doch völlig in Ordnung."